Sanierungsprojekt Strassenlärm – K117, Bruggerstrasse Baden

Baden 29. Juni 2023

Offener Brief an Regierungsrat Stephan Attiger, Vorsteher Departement Bau, Verkehr und Umwelt (BVU)

Sehr geehrter Herr Regierungsrat

Die Grünen Baden, die SP Baden und das team baden nehmen in dieser Form Stellung zum aktuell aufgelegten Sanierungsprojekt Strassenlärm auf der Bruggerstrasse, da wir als Parteien nicht berechtigt sind zu einer Einsprache. 

Zur Ausgangslage: Die Bruggerstrasse ist eine Hauptverkehrsstrasse von Baden im Eigentum des Kantons. Diese Strasse präsentiert sich heute als unwirtliche Schneise mitten durch die Stadt. Der motorisierte Verkehr ist massiv und belastet die eigentlich attraktive Stadt mit Lärm und Luftschadstoffen. Quartiere werden getrennt, der Schulweg vieler Kinder ist gefährlich und die Verhältnisse für den Veloverkehr und für die Fussgängerinnen und Fussgänger sind unbefriedigend. Unmut über die heutige Situation regt sich in breiten Bevölkerungskreisen. 

Nun steht eine weitere Lärmsanierung der Bruggerstrasse an, da die Grenzwerte seit Jahren überschritten werden.  Gespannt haben wir die Projektunterlagen konsultiert. Wichtige Fragen für uns waren: Wie wirksam sind die geplanten Massnahmen? Geht es nur um den Lärmschutz oder packt der Kanton die Chance und verbessert die Situation auch für alle Verkehrsteilnehmenden und für die Bevölkerung? In anderen Städten werden im Rahmen von Lärmsanierungen beispielsweise Strassen neu organisiert und zu Gunsten einer guten Lebensqualität umgestaltet. Da konnte erwartet werden, dass ein solches Vorgehen in Baden wenigstens geprüft würde. Fehlanzeige: Der Kanton Aargau bleibt in der Symptombekämpfung stecken. 

Dabei könnte es, bzw. sollte es anders sein: 

Der kantonale Richtplan empfiehlt entlang von Strassen mit Wohnanteil und einem durchschnittlichen täglichen Verkehr (DTV) von mehr als 8’000 Fahrzeugen Aufwertungsmassnahmen für den angrenzenden Siedlungsraum. Bei Strassenabschnitten mit mehr als 15’000 Fahrzeugen/Tag (DTV), wie der Bruggerstrasse, sind die Gemeinden verpflichtet, das angrenzende Siedlungsgebiet durch planerische und bauliche Massnahmen aufzuwerten. Eine gesamtheitliche Betrachtung und koordinierte Entwicklung spielt dabei eine Schlüsselrolle. Insbesondere stehen für uns folgende Themen im Fokus:    

  • bessere städtebauliche Einbindung des Strassenkörpers  
  • Aufwertung der «Eintrittspforte zur Stadt Baden» vom Kappelerhof kommend auf beiden Seiten der Bruggerstrasse  
  • Redimensionierung der Verkehrsspuren  
  • bessere Querung für den Fussverkehr (z.B. mit Mittelinseln, Mehrzweckstreifen in der Mitte und deutlich verkürzten Wartezeiten beim Lichtsignal)   
  • Temporeduktion/Einführung von Tempo 30
  • visuelle, räumliche und sicherheitstechnische Verbesserung der Velospuren  
  • Gestaltung des Raums zwischen den Gebäudezeilen mit Bäumen; Verminderung der Asphaltflächen; Verbesserung der Aufenthaltsqualität     

Für eine erfolgreiche Entwicklung und Aufwertung von Zentren und ihren Strassenräumen sind hierarchisch mehrstufige Planungsprozesse in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Gemeinden erforderlich.  

Im Einwohnerrat der Stadt Baden sind mehrere Vorstösse zur Aufwertung der Bruggerstrasse eingereicht worden. Seit 2011 ist auch eine Temporeduktion als kostengünstigste und wirksame Massnahme zur Reduktion des Lärms und Erhöhung der Sicherheit ein Thema. Der Stadtrat Baden hat dem Einwohnerrat die Zusicherung gegeben, sich beim Kanton um eine schrittweise Verbesserung der jetzigen Situation einzusetzen und im Rahmen des Koordinationsgremiums Verkehr Stadt/Kanton mögliche Lösungen einzubringen. Insbesondere hat der Stadtrat Baden auf die Frage nach einer möglichen Einführung von Tempo 30 auf der Bruggerstrasse in einer erneuten Anfrage der Grünen Baden im Februar 2022 wie folgt geantwortet: «Der Stadtrat wird […] beim Kanton vorstellig werden und ihn ersuchen, aufzuzeigen, welche Vor- und Nachteile die Einführung von Tempo 30 in diesem Abschnitt der Bruggerstrasse hätte.»

Zudem hat der Einwohnerrat der Stadt Baden aufgrund einer eingereichten Volksinitiative am 28. Januar 2020 das «Reglement für eine nachhaltige städtische Mobilität» angenommen. Dieses verpflichtet den Stadtrat, Massnahmen zum «Schutz der Bevölkerung vor den negativen Auswirkungen des Verkehrs und zur Aufwertung der Stadt als Lebens-, Begegnungs-, Einkaufs- und Arbeitsort» zu treffen und den Anteil des motorisierten Individualverkehrs in der Stadt zu reduzieren. 

Die Beratungsstelle für Unfallverhütung BFU plädiert für einen Paradigmenwechsel in der Verkehrsplanung: «Tempo 30 bietet ein enormes Potenzial für die Verkehrssicherheit […] In der Schweiz sind bereits viele Tempo-30-Zonen eingerichtet worden, vor allem auf nicht verkehrsorientierten Strassen in den Städten. Das grosse Rettungspotenzial ist jedoch noch nicht ausgeschöpft. Um dies zu ändern, müssen aus Sicht der BFU die rechtlichen Hürden für eine Einführung von Tempo 30 reduziert werden. Zudem ist ein Paradigmenwechsel in der Verkehrsplanung notwendig: Der Fokus darf nicht ausschliesslich auf nicht verkehrsorientierten Strassen liegen, vielmehr müssen – wo es die Verkehrssicherheit erfordert – auch Hauptverkehrsachsen einbezogen werden, die aber vortrittsberechtigt bleiben. Untersuchungen belegen zudem, dass der Sicherheitsgewinn dabei nicht zulasten des Verkehrsflusses und der Leistungsfähigkeit geht: In aller Regel hat eine Senkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit weder einen nennenswerten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit einer Hauptverkehrsstrasse noch muss mit nennenswerten Verkehrsverlagerungen gerechnet werden.» (https://www.bfu.ch/de/die-bfu/politik/mit-tempo-30-die-verkehrssicherheit-erhoehen)

Der Schweizerische Städteverband (bei dem die Stadt Baden Mitglied ist) fordert eine Reduktion des Strassenlärms an der Quelle und verlangt deshalb, dass Tempo 30 in den Städten zur Norm wird.

In den Handlungsempfehlungen des Raumentwicklungskonzepts der Stadt Baden (REK) ist festgehalten: «Reduktion der signalisierten Höchstgeschwindigkeit auf Kantonsstrassen prüfen. Auch Möglichkeit von flexiblen Tempovorschriften, z. B. Tag- Nacht- Differenzierung.»

In seiner Medienmitteilung des Kantons zu den Ergebnissen aus der dritten Mobilitätskonferenz zum Gesamtverkehrskonzept (GVK) Raum Baden und Umgebung hält der Kanton fest: «Themen wie Temporeduktion und Tempo 30 sind für viele Teilnehmende der Mobilitätskonferenz zentrale Massnahmen, sie erhöhen die Sicherheit der Verkehrsteilnehmenden; Tempo 30 soll nicht generell für Kantonsstrassen gelten, aber punktuell möglich sein […].»

Realisiert ist im Kanton Aargau und in Baden bisher nur sehr wenig. Angesichts des zeitlichen Horizontes für das regionale Gesamtverkehrskonzept Ostaargau, das erst ab 2040 realisiert sein soll, rückt eine Lösung für die Verkehrssituation auf der Bruggerstrasse in weite Ferne. Gerade wegen dieser viel zu grosszügigen zeitlichen Perspektive sollten dringende Verbesserungen, wie das auch der Stadtrat vorgeschlagen hat, vorgezogen werden können. Schon in den Vernehmlassungsakten des Projekts OASE sind verschiedene Aufwertungsmassnahmen erwähnt mit einem Zeithorizont vor der Umsetzung der OASE.

Ein geeigneter Zeitpunkt für die Verbesserung der Situation rund um die Bruggerstrasse bietet sich nun im Rahmen des Strassenlärm-Sanierungsprojektes. 

Das Gesetz und die Gerichte verlangen bei solchen Projekten eine nachvollziehbare und dokumentierte Interessensabwägung. Dazu zählt unter anderem auch eine Verhältnismässigkeitsprüfung des Temporegimes. Die Verhältnismässigkeit von Tempo 30 muss für jeden einzelnen Strassenabschnitt gemäss Art. 32 Abs. 3 SVG geprüft werden. Eine Massnahme gilt als verhältnismässig, wenn sie notwendig, geeignet und zumutbar ist:

  • Die Notwendigkeit ist gegeben, wenn die Immissionsgrenzwerte (IGW) überschritten sind.
  • Die Massnahme ist geeignet, wenn sie eine wahrnehmbare Lärmminderung bewirkt (mind. 1 dB(A)).
  • Die Massnahme gilt als zumutbar, wenn der Massnahme keine das Gesundheitsinteresse der Anwohnenden überwiegenden Interessen entgegenstehen.

Die Verhältnismässigkeitsprüfung von Massnahmen hat im Einzelfall, d.h. für jeden Strassenabschnitt, in einem Gutachten zu erfolgen.

Unsere Feststellungen und Fragen zum vorliegenden Sanierungsprojekt

Planungshierarchie:

Das vorliegende Lärmsanierungsprojekt gliedert sich in keiner Weise in die Planungshierarchie ein. Die Planungskaskade Raumentwicklungskonzept (REK), Kommunaler Gesamtplan Verkehr (KGV) und «Vorstudie Siedlungsraum und Strasse» wird ignoriert, und es wird nur auf Schallschutzfenster fokussiert. Die Herausforderungen in ihrer ganzen Breite werden ignoriert.

Interessensabwägung resp. Verhältnismässigkeitsprüfung:

Die Vorprüfung einer Einführung von Tempo 30 ist von der Sektion Verkehrssicherheit erarbeitet worden. Bezogen auf das Thema Anpassung des Temporegimes wird quasi keine Interessensabwägung vorgenommen. Statt wie in einem Lärmsanierungsprojekt normalerweise prioritär gefordert, eine Verbesserung an der Lärmquelle durch eine Temporeduktion zu ermöglichen, werden rudimentär Gründe zur Verhinderung von anderer Massnahmen an der Quelle wie Tempo 30 aufgeführt. Eine reduzierte Geschwindigkeit würde nicht dem Erscheinungsbild der Strasse entsprechen und würde nicht akzeptiert. Eine seriöse und vollständige Interessensabwägung müsste beleuchtet beispielsweise die folgenden Aspekte beleuchten: Lärmbelastung, Verkehrssicherheit, Aufenthaltsqualität, Verkehrsfluss, Luftschadstoffe und Treibhausgase, Ausweichverkehr, Konsequenzen ÖV etc.

Umsetzungszeitpunkt der Massnahmen:

Es wird ein Projekt präsentiert, dass kurzfristig «nur» Schallschutzfenster vorsieht. Massnahmen an der Quelle wie Temporeduktion werden ausgeschlossen und der lärmarme Belag wird irgendwann in den nächsten 20 Jahren eingebaut. Wird dieses Vorgehen einem konzeptionell durchdachten Sanierungsprojekt gerecht? Werden diese Umsetzungszeitpunkte dem Ziel eines Lärmsanierungsprojektes gerecht? 

Projektkosten:

Die Kosten der Sanierungsmassnahmen (ohne Belagssanierung und Einfahrtsbremse) betragen voraussichtlich ca. Fr. 5‘113’000. Man erreicht damit die «Lärmsanierung», d.h. die Einhaltung der Immissionsgrenzwerte, von bei einem 1 der betroffenen 52 Gebäuden. Sind diese Projektkosten am «richtigen» Ort eingesetzt? Es würden danach immer noch 1405 Personen unter den Grenzwertüberschreitungen leiden.

Datengrundlage:

Die im Projekt verwendeten Daten sind teilweise veraltet. Gibt es neuere Zahlen? Der Bedarf an Lärmsanierung ist in der Zwischenzeit vermutlich parallel zum Verkehr angestiegen.

Unsere Forderungen

  • Rückzug und Überarbeitung des Lärmsanierungsprojektes
  • Einordnung des Lärmsanierungsprojektes in die Planungshierarchie. Integration in die «Vorstudie Siedlungsraum und Strasse», », Integration der städtischen Strategie-Papiere und Ziele (z.B. Reglement für eine nachhaltige städtische Mobilität, Städtischer Verkehr, Legislaturziele von Baden, REK etc.)
  • Ergebnisoffene Prüfung einer Temporeduktion mit einer breiten Interessenabwägung  (Verkehrssicherheit, Aufenthaltsqualität, Verkehrsfluss, Luftschadstoffe und Treibhausgase, Ausweichverkehr, Konsequenzen für den ÖV)
  • Umkehr der Planungsideologie – Wechsel von «Warum funktioniert T30 nicht mit diesem Erscheinungsbild des Strassenraums?» zu «Was bräuchte es, dass T30 funktioniert und die Anwohner nicht länger unter dem Lärm leiden müssen»?
  • Pilotversuche, ein schrittweises Sammeln von Erfahrungen. – Was bräuchte es für einen Test T30 auf der Bruggerstrasse? Wie können die in städtischen Papieren (REK etc.) festgehaltenen Grundsätze an dieser Kantonsstrasse umgesetzt werden?
  • Allenfalls Pilotversuche mit Tempo 30, um dem Kanton Aargau ein schrittweises Sammeln von Erfahrungen zu ermöglichen. 

Mit dem jetzt geplanten Einbau von Schallschutzfenstern wird keines der seit Jahren drängenden Probleme dieser Strasse gelöst. Wir bitten Sie deshalb, unsere Argumente bei der weiteren Planung zu berücksichtigen.

Wir danken Ihnen für eine sorgfältige Prüfung unserer Anliegen und grüssen Sie freundlich

Grüne Baden, Emanuel Ebner, Präsident Grüne Baden, und Beatrice Schilling, Vorstand Grüne

SP Baden, Hansruedi Stauffacher, Fraktionspräsident, und Markus Rausch, Einwohnerrat

team Baden, Luca Wälty, Präsident team baden, und Till Schmid, Vorstand team baden


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